10. Januar 2024 | Ein Forschungsteam von der Hochschule Hamm-Lippstadt sowie der Universität Paderborn hat innovative Lösungen für die Trennung hochfester Stahlklebverbindungen in Fahrzeugen entwickelt. Das herkömmliche Entfügeverfahren mittels hoher Temperaturen wurde durch ein neues Verfahren ersetzt, das auf Abkühlung bis etwa minus 60 Grad Celsius setzt. Diese Methode ermöglicht eine materialschonende und nachhaltige Trennung von Klebverbindungen, insbesondere bei Mehrlagenverbindungen in Karosseriestrukturen.
Die Forschungsergebnisse sind nicht nur bahnbrechend, sondern auch praxisrelevant, insbesondere für die Fahrzeugreparatur. Unternehmen wie die Vogel GmbH & Co. KG – Karosserie und Lackiercenter setzen das neue Kaltentfügeverfahren bereits erfolgreich ein. Diese innovative Technologie trägt nicht nur zur Effizienz und Nachhaltigkeit in der Reparatur von Multimaterialmix-Karosserien bei, sondern bietet auch ökonomische und ökologische Vorteile im Werkstoffkreislauf.
Finalisten für den Otto von Guericke-Preis 2023
Das Forschungsteam, bestehend aus Prof. Dr.-Ing. Tim Michael Wibbeke, Dr. Aurélie Bartley, Prof. Dr.-Ing. Gerson Meschut und Nick Chudalla, ist eines der drei Finalistentams für den Otto von Guericke-Preis 2023. Die Ergebnisse ihres Forschungsprojektes mit dem Titel „Analyse des Versagensverhaltens geklebter Stahl-Verbindungen bei werkstoffschonenden Entfügen in der Karosserieinstandsetzung“ ermöglichen nachhaltige Prozesse in der Kreislaufwirtschaft, insbesondere in der Fahrzeugreparatur.
Die Forschungs- und Transfernetzwerk AiF Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ e.V. vergibt den mit 10.000 Euro dotierten Preis seit 1997 an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für besondere Innovationsleistungen im Bereich der vorwettbewerblichen Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF), die vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) finanziert wird.
Die eiskalte Lösung
Im Bereich des Automobilbaus ist das Kleben als Fügetechnologie nicht mehr wegzudenken – von Leichtbaukarosserien über Sicherheitsglas bis hin zu Traktionsbatterien. Moderne Fahrzeuge enthalten zwischen 15 und 18 Kilogramm Klebstoff, der wertvolle Stahlkomponenten miteinander verbindet. Neun Prozent der gesamten jährlichen Klebstoffproduktion entfallen mittlerweile auf die Fahrzeugbranche. Während Klebverbindungen in der Produktion, im Betrieb und auch bei Kollisionen klare Vorteile bieten, stellten sie bisher bei der Karosserieinstandsetzung große Probleme dar. Das Trennen von hochfesten Stahlklebverbindungen, um die Materialien zu erhalten, ist aufgrund der hohen Festigkeits- und Zähigkeitseigenschaften sowohl des Stahls als auch der Klebstoffe eine erhebliche Herausforderung.
“Hochfeste, crashstabile Klebverbindungen mussten bislang bei relativ hohen Temperaturen von 350 bis 500 Grad Celsius, zum Beispiel mit einem speziellen Heißluftfön und Karosseriemeißeln, aufwendig entfügt werden”, erklärt Wibbeke.
Bauteile, die eigentlich wiederverwendet werden sollten, wurden durch die mechanische Beanspruchung deformiert. “In Karosseriestrukturen haben wir häufig Mehrlagenverbindungen – das heißt, es sind mehrere Klebschichten übereinander angeordnet. Durch die hohen Temperaturen werden die darunterliegenden Klebschichten thermisch geschädigt”, ergänzt Meschut. Dieses Verfahren ist weder kostengünstig noch nachhaltig.
Die Forscher haben daher nach einem neuartigen Ansatz gesucht, Klebverbindungen mittels tiefer Temperaturen schnell, einfach, nachhaltig und schonend für die Bauteile zu lösen. Sie haben Parameter ermittelt, unter denen die Klebstoffe effizient und ohne Verformung der Bauteile entfügt werden können.
“Wir konnten zeigen, dass bei einer kurzzeitigen Abkühlung von zirka minus 60 Grad Celsius die Werkstoffeigenschaften unbeeinflusst bleiben. Das macht unser Verfahren besonders schonend und gut geeignet für die Kreislaufwirtschaft der Karosserieteile”, hebt Bartley stolz hervor.
Sie setzen einen Demonstrator ein, der auf einer Trockeneisstrahlanlage basiert. Ein Gemisch aus CO2 und Ethanol kühlt die darunterliegende Klebschicht ab und ermöglicht materialschonendes Entfügen.
Wirtschaftlich und nachhaltig
Innerhalb von IGF-Projekten forschen Wissenschaft und Wirtschaft immer gemeinsam. Mittelständische Unternehmer bringen ihre langjährige Expertise aus der Praxis ein und sind ein Garant für anwendungsnahe und bedarfsgerechte Forschung.
Peter Vogel, Geschäftsführer der Vogel GmbH & Co. KG – Karosserie und Lackiercenter, und seine Mitarbeiter verwenden das Kaltentfügeverfahren seit April 2022. Der Unfallreparaturspezialist fasst die Wirkung der Forschungsergebnisse zusammen: “Für uns ist eine effiziente, nachhaltige, schnelle Reparatur von Multimaterialmix-Karosserien extrem wichtig. Bei dem Kaltentfügeverfahren werden bestehende Strukturen entsprechend geschont, und wir können damit eine schnellere und saubere Reparatur generieren. Das ist für uns extrem wirtschaftlich und nachhaltig.”
Dieses Projekt ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie anwendungsorientierte Gemeinschaftsforschung im vorwettbewerblichen Bereich für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) funktioniert, schätzt Rainer Salomon, Geschäftsführer der AiF-Forschungsvereinigung Stahlanwendung e.V. – FOSTA, und erklärt: “Allein über den Zentralverband Fahrzeug- und Karosserietechnik erreichen wir über 3.200 Unternehmen mit den IGF-Ergebnissen, die diese jetzt auch wirklich anwenden können. Da sie großserientauglich sind, bedeutet dies große Vorteile im Werkstoffkreislauf.” Überall, wo Stahl eingesetzt wird, kann das neue Entfügeverfahren die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit steigern.
Über die AiF
Die Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ e.V. ist das Forschungs- und Transfernetzwerk für den deutschen Mittelstand. Als Dachverband von 85 gemeinnützigen Forschungsvereinigungen mit rund 2.500 direkt in die AiF eingebundenen und weiteren ca. 140.000 über die Forschungsvereinigungen eingebundenen Unternehmen sowie über 1.200 beteiligten Forschungseinrichtungen leistet sie einen wichtigen Beitrag, die Volkswirtschaft Deutschlands in ihrer Wettbewerbs- und Weltmarktfähigkeit nachhaltig zu stärken. Seit ihrer Gründung im Jahr 1954 lenkte die AiF rund 14 Milliarden Euro öffentliche Fördermittel in neue Entwicklungen und Innovationen und brachte mehr als 247.000 Forschungsprojekte auf den Weg. Mehr Informationen: aif.de
Das IGF-Förderprogramm wird im Auftrag des BMWK vom DLR Projektträger betreut.