PW: Herr van Doesburg, Herr Dr. Özkan, Sie haben im vergangen September zum 75-jährigen Firmenjubiläum Ihren neuen Hybridofen ATLAS Green erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Ein halbes Jahr später, im April 2024, wurde ATLAS Green bereits mit dem German Innovation Award 2024 ausgezeichnet. Was ist das Besondere an Ihrem neuen hybriden Ofenkonzept?
Paul van Doesburg: Über viele Jahre hinweg wurde immer wieder die Frage gestellt: Was können wir als Ofenbauer tun, um die Prozesse der Härtereibranche energieeffizienter und damit energiesparender zu machen? Die Antwort lautet Hybrid Heating. Mit ATLAS Green haben wir dieses hybride Heizungskonzept, nämlich einen Ofen sowohl mit Gas als auch mit elektrischer Energie zu betreiben, erstmals umfassend ganzheitlich und maximal nachhaltig umgesetzt.
PW: Was genau verstehen Sie unter maximal nachhaltig?
Dr. Bora Özkan: Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang eine zentrale technische Anmerkung: ATLAS Green heizt nicht nur entweder mit Strom oder mit Gas. Er heizt bei Bedarf auch gleichzeitig sowohl mit Strom als auch mit Gas. Unser Hybridofen zeichnet sich dadurch aus, dass er so viel Strom wie möglich verwendet und dann mit Gas zuheizt, wo es benötigt wird. So vermeidet er Stromverbrauch in Zeiten, zu denen wenig Strom verfügbar und der Strom somit teurer ist. Zu diesen Zeiten läuft er mit Erdgas oder mit Wasserstoff.
PW: Warum electric heating first?
Dr. Özkan: Wenn wir in Zukunft CO2-neutral produzieren wollen, muss vorrangig mit Strom geheizt werden, sofern er in diesem Moment durch Wind- oder Solarenergie erzeugt werden kann. Aber manchmal bleibt auch die Residuallast. Die kann über Direktverfeuerung von Wasserstoff gefüllt werden oder indem via Brennstoffzelle oder Gasturbine rückverstromt wird. Aber der rückverstromte Strom kostet ja das Zwei- bis Dreifache von Wasserstoff. Ganz im Gegensatz zu Zeiten, zu denen er einem geradezu hinterhergeworfen wird. Und genau da muss man flexibel sein.
Van Doesburg: Nicht ganz uninteressant in diesem Kontext: Wir haben jetzt den ersten Kunden, der seinen ersten eigenen Windpark auf sein Gelände baut und mit dem gewonnen Strom auch Wasserstoff herstellen will. So wird er energieautark. Kunden, die so ihre eigene Energie beisteuern können, sind durch ATLAS Green noch flexibler. Als wir uns das erste Mal mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, kam ziemlich schnell die Frage auf: Was ist der Einfluss von Ipsen auf den CO2-Ausstoß in dieser Welt?
PW: Wie fiel Ihre Antwort aus?
Van Doesburg: Wenn wir den CO2-Ausstoß betrachten, ist das Bauen der Öfen, das Verschrotten der Öfen, der Betrieb unseres Werks alles Kleinkram verglichen mit den Produkten, die wir auf den Markt bringen. Der Heizbetrieb unserer Öfen macht den Hauptteil aus. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Einfluss von Ofenbauern auf den CO2-Fußabdruck enorm, weil unsere Öfen ja 35 bis 40 Jahre laufen. Also war uns sehr schnell klar: Wenn wir etwas Positives im Klimawandel bewerkstelligen wollen, dann müssen wir die Beheizung unserer Öfen komplett anders strukturieren.
PW: …und vor allem auch die Frage fokussieren: Wie können wir als Ofenbauer dafür sorgen, dass die Produkte, die unsere Kunden nutzen, zu deren grüner Transformation beitragen?
Dr. Özkan: Genau das ist der springende Punkt. Wir setzen uns intensiv damit auseinander, was unsere Kunden energieökonomisch brauchen. Wir versuchen aus Kundensicht zu denken: Wie viel Energie braucht dieser Kunde und woher erhält er sie? Traditionell fragt der Ofenbauer eher nach, welche Energieform gefordert ist. Gas oder Strom und liefert den geforderten Ofen. Und wir geben jetzt mit ATLAS Green nicht nur die Antwort: „Wir können beides“, sondern wir liefern auf Wunsch auch gleich das Instrumentarium mit, wie unser Kunde damit sinnvollerweise bestmöglich umgehen kann, sprich, dass eine im Ofen integrierte Software die Zufuhr auch selbstständig über Stellgradberechnung regelt.
PW: Das heißt, Ihr Hybridofen kann nicht nur Gas und Strom gleichzeitig verwenden, er kann die Zufuhr auch vollkommen selbstständig steuern?
Dr. Özkan: Korrekt, wir haben beide Energiequellen, die gasförmige und die elektrische gleichzeitig im Zugriff. Wir können sekundenschnell Gas oder Strom dazu- oder wegschalten! Und das Ganze, ohne den Gesamtstellgrad der Beheizung zu verändern. Und auch wenn die Zusammensetzung der Energiezufuhr aus Gas und Strom sehr schwankt, können wir trotzdem eine gute Temperaturgleichmäßigkeit gewährleisten.
PW: Wie funktioniert das konkret?
Dr. Özkan: Das geht auf zwei Ebenen. Die erste Ebene mit der sekundenschnellen Umschaltung habe ich ja gerade erklärt. Jetzt kommen wir zur zweiten: In den meisten Fällen produzieren wir Kammeröfen, die diskontinuierlich beladen werden. Hier hat der Betreiber Einfluss darauf, wann spezielle Chargen genau beheizt oder auf einer bestimmten Temperatur gehalten werden sollen. Viele unserer Prozesse haben lange Haltezeiten und nur kurze Phasen, in denen die volle Energiemenge gebraucht wird. Da können unsere Kunden sich jetzt auf die jeweiligen Gegebenheiten einstellen. Wenn zum Beispiel viel Sonne und Wind erwartet werden, wird der Strom günstig. Zu diesen Zeiten müssen die Aufheizphasen liegen. Die zweite Ebene ist also die Produktionsplanung. Hierfür haben wir eigens eine Software entwickelt, Automag, die die gesamte Produktion planen kann.
PW: Hört sich nach Prognostic Foresight an.
Dr. Özkan: Richtig, darum geht es. Die Software bezieht beispielsweise mit ein, was sofort durchgehen muss oder ob eine Charge mit höherer Priorität kommen wird, oder auch ob eine Charge einen bestimmten Ofen braucht, weil dieser z. B. ein Ölbad mit einer bestimmten Sorte Öl verwendet. Und da hilft die Software, geschickt zu planen. Auch der Energiebedarf jedes einzelnen Teilschritts wird berücksichtigt. Die ganze Produktion kann auf diese Weise maximal energieeffizient ohne Energie-Peaks und mit günstig verfügbarem Strom geplant werden.
PW: Wie kann die Software den künftigen Strompreis in ihre Planung integrieren?
Dr. Özkan: Der Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber veröffentlicht täglich um 12:00 Uhr die Stromkosten für den nächsten Tag. Dieser Day Ahead-Preis ermöglicht es auch einigermaßen gut den Anteil an Grünstrom daraus abzuleiten. Die API unserer Software kann auf diese Daten zugreifen und sie in die Produktionsplanung einbeziehen. Dieser 24-Stunden-Rhythmus passt auch sehr gut, denn etwa so lang dauert auch zumeist ein kompletter Zyklus bei uns. Vom Vorwärmofen über Hochtemperaturofen, zum Waschen und Anlassen. Und so können wir dann durch sinnvolle Planung Peaks von Verfügbarkeiten von grünem Strom direkt auffangen und sinnvollerweise in die energieintensivsten Prozesse zeitlich einplanen.
PW: Ermöglicht die Software dadurch nicht auch einen ungewollten tiefen Einblick in die Daten der Kunden?
Dr. Özkan: Das muss natürlich gewährleistet sein, dass das nicht passiert. Unsere Software für die Bereitstellung von Energiedaten läuft unabhängig vom jeweiligen Werksnetz in einer sicheren Umgebung. Sie betrachtet ausschließlich die thermischen Daten der Anlage, aber nicht welches Teil produziert wird oder in welcher Menge. Diese Daten sind Geschäftsgeheimnisse des Kunden. Die Software muss nur die energetischen Daten im Blick haben, diese müssen auch für die Kunden nachvollziehbar bleiben. Daneben gibt es die Planungssoftware, auf die kein Zugriff von außen benötigt wird. Diese Planungssoftware kann nur in eine Richtung, nämlich lesend, auf die Energiedaten aus der Energiedatensoftware zugreifen, gibt aber selbst keine Daten nach außen. Man sollte noch dazusagen: Durch Planung können wir nicht alles erreichen. Wenn die Anlage vollständig ausgelastet ist, ist es schwierig noch etwas zu optimieren. Aber wenn die Anlage zum Beispiel zu 80 % ausgelastet ist, können unsere Kunden beispielsweise durch Loadshifting agieren.
PW: So gesehen ist ATLAS Green auch und vor allem ein digitaler Ofen und selbstredend gibt es zu Simulationszwecken auch einen leistungsfähigen Digital Twin?
Dr. Özkan: Richtig. In diesem Bereich arbeiten wir sehr eng mit der Hochschule Rhein-Waal zusammen. Dort gibt es einerseits studentische Arbeiten zu dem Thema, aber es gibt dort auch eine sogenannte Tandemstelle, die es uns ermöglicht, mit den Wissenschaftlern dort in Kooperation zu arbeiten. Diese kümmern sich primär um den Digital Twin. Im Moment wird er dort immer weiter verfeinert.
PW: Welche Herausforderungen stellen Sie an den Digital Twin?
Dr. Özkan: Über den Digital Twin wollen wir genau sehen, welche Wärmeströme in die Charge ein oder aus der Charge austreten. Das ist wichtig zur Planung bei einer Produktionsstätte, die mehrere Kammeröfen beinhaltet. Um hier vorausplanen zu können, müssen die Ofenbetreiber den Energiebedarf der einzelnen Produktionsschritte kennen. Es reicht nicht zu wissen, wie viele Kilowattstunden je Kilogramm Charge benötigt werden. Ich muss wissen, zu welcher Uhrzeit wie viel Energiebedarf sein wird. Dafür braucht es einen Digital Twin.
PW: Haben Sie auch bei der Entwicklung der Software, mit der Sie den Ofen steuern, mit der Hochschule zusammengearbeitet?
Van Doesburg: Nein, diese wurde vollständig bei uns im Haus entwickelt. Wenn ich ein so großes und so wichtiges Projekt outsource, erschwert das enorm die Kommunikation. Das ist sogar noch bedeutend zu leicht ausgedrückt. Interessantes Detail: Inzwischen arbeiten wir in der Konstruktion mit mehr Programmierern als mit mechanischen Konstrukteuren. Wenn es dann an die Fertigung geht, übernehmen natürlich die Mechaniker, aber im ersten Schritt läuft vieles über die Software. Die Zukunft des Ofenbaus ist kein Hexenwerk. Man muss die Technik kennen. Man braucht gute Leute, die Technik und Verarbeitung zusammenbringen. Aber die Weiterentwicklung, das, was uns zukünftig voranbringen wird, sehen wir ganz eindeutig in der Software.
PW: Wie wirkt sich der wachsende Software-Anteil am Produkt auf das Service-Geschäft aus?
Van Doesburg: Das Aftermarket-Geschäft ist für uns traditionell extrem wichtig. Es ist sogar ein größerer Faktor als das Neuanlagengeschäft. Der wachsende Softwareanteil am Produkt wird diese Gewichtung sicher nochmals verstärken. Das lässt sich auch ganz leicht erklären. Automobilisten sind oft keine Experten für den Ofenbau. Sie haben natürlich auch sehr gute Mitarbeiter, aber die sind dann eher Spezialisten für beispielsweise Werkzeugmaschinen. Oder eine Lohnhärterei, deren tägliches Brot von Öfen abhängt, kennt sich natürlich sehr gut mit der notwendigen Technik aus, ist aber oft einfach ausgelastet und hat gar nicht die Personalstärke, um selbst die Wartung übernehmen zu können. Daraus ergibt sich ganz natürlich, dass das Servicegeschäft ein großer Bestandteil unserer täglichen Arbeit ist.
PW: Auch speziell auf den digitalen Bereich, also digitale Services, gesehen?
Van Doesburg: Das ist eine Frage der Definition, was genau eigentlich digitale Services sind. Grundsätzlich sind diese aber auf jeden Fall ein Teil unserer Serviceleistungen, ich würde behaupten, noch nicht zu 50 %, aber wir bauen diese Services kontinuierlich aus. Zum Beispiel Remote Zugriff auf die Rechner der Kunden zu erhalten, um von dort aus aufgetretene Probleme zu lösen, Änderungen durchzuführen oder was eben gerade benötigt wird. Das ist inzwischen für uns ganz normal.
PW: Digitale Service-Kompetenz wird von den Kunden zunehmend auch beim Thema CO₂-Nachweis eingefordert. Wie sieht hier Ihre Lösung aus?
Dr. Özkan: Kohlenstoff spielt beim ATLAS Green an zwei Fronten eine entscheidende Rolle. Zum einen bei der stofflichen Nutzung für Aufkohlungsprozesse und zum anderen bei der Energieversorgung. Zur Senkung des stofflichen Kohlenstoffverbrauchs im ATLAS Green ist ein Analysator mit Steuerung verbaut, der die Zufuhr von Kohlenstoff dementsprechend anpasst, wie viel im übrigen Prozess noch benötigt wird. So kann er den Bedarf an Kohlenstoff senken. Hinzu kommt, dass das System sämtliche Daten der Prozesse speichert. So können wir beispielsweise genau nachempfinden, wie viel CO2 für eine bestimmte Charge sowohl bei der stofflichen als auch bei der energetischen Nutzung verbraucht wurde. Dies kann die zukünftige Zertifizierung des CO2-Verbrauchs enorm erleichtern. Hierbei hilft eine von uns entwickelte App, die wir zur Verfügung stellen. So sind die Chargen einzeln und sehr transparent nachvollziehbar und nach Kunden unterteilbar.
Van Doesburg: Ein weiterer wichtiger Punkt ist hierbei auch das ESG-Reporting. Da unterstützt unsere I Care Software vorbildlich. Sie hilft genau nachzuvollziehen, wie viel CO2 pro Charge benötigt wird und auch verbraucht wurde. Gut zu wissen, in diesen unsicheren Zeiten, wenn wir die derzeitigen Strompreise, aber auch den Umgang mit CO2-Emissionen betrachten. Durch die Flexibilität und Datenanalyse, die der ATLAS Green bietet, entsteht hier ein Höchstmaß an Sicherheit.
Dr. Özkan: Last but not least werden durch den Recon-IV-Brenner die NOx-Emissionen reduziert. Wir bewegen uns in einem Bereich von unter 100 mg/Nm³. Die WHO hat die Werte 2021 für alle Emissionen gesenkt. Bei der EU dauert dieser Prozess etwas länger, hier arbeitet man immer noch daran, die WHO-Werte von 2005 in Vorschriften umzusetzen. Die NOx-Grenzwerte werden hier aber auch weiter sinken, denn der EU sind die neuen WHO-Werte bewusst. Wir können also nicht mehr das CO2-Problem isoliert betrachten, sondern müssen zeitgleich auch das NOx-Problem bekämpfen.
PW: Wir verstehen, dass es wohl die Summe all dieser Neuerungen war, die die Jury bewogen hat, Sie mit dem German Innovation Award 2024 auszuzeichnen. Wirkt sich die Auszeichnung denn auch auf die Verkaufszahlen aus?
Van Doesburg: Unsere Auftragsbücher sind voll. Wir stellen aber bei Neuaufträgen erstaunt fest, dass seit wir den ATLAS Green im September 2023 vorgestellt haben, alle Öfen, die wir verkauft haben, Hybridöfen waren. Die Kunden, die mit Gas heizen, kaufen jetzt Hybridöfen und die Kunden, die mit elektrischem Strom heizen, kaufen ebenfalls Hybridöfen. Das zeigt, dass wir eine Marktlücke getroffen haben. Dabei ist nochmal wichtig zu erwähnen, dass der Hybridanteil modular ganz nach Bedarf des Kunden zu oder abgeschaltet werden kann. Das ist offensichtlich das, was der Markt jetzt fordert.